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Konsequenter Tierschutz :
Tierrechte und vegane Lebensweise

Aus: Tierschutz , Tierrechte - ist die Konsequenz eine vegane Lebensweise ?
Vortrag auf der Silvestertagung des Vegetarier-Bundes Deutschlands am 29. Dezember 1999 in Potsdam
von Herbert Becker ( Berlin )

Vorbemerkung
Der oben genannte Vortrag stieß während der Tagung des Vegetarier-Bundes auf erfreuliches Interesse, was sich auch daran zeigte, dass einige Zuhörer den Vortragenden um ein Manuskript baten. Obwohl seitdem mehr als ein Jahrzehnt vergangen und inzwischen die vegane Lebensweise in der Öffentlichkeit bekannter geworden ist, blieb die im Vortrag angesprochene Thematik durchaus aktuell.  tierrechte-tv hat sich deshalb entschlossen, den Vortrags- text (mit einigen kleinen redaktionellen Änderungen) im folgenden zu veröffentlichen: 

Das Thema, über das ich hier heute spreche, nämlich über Tierschutz, Tierrechte und - als Konsequenz - die vegane Lebensweise, wäre wohl vor noch wenigen Jahrzehnten auch auf einer Veranstaltung von Vegetariern kaum akzeptiert worden. Wer über Tierrechte gesprochen hätte, wäre selbst in Tierschutzkreisen weithin auf Unverständnis gestoßen und in der Öffentlichkeit als ,,Spinner", ,,Phantast" u. dgl. nicht Ernst genommen worden. Nicht besser steht es mit dem Begriff vegan. Dieser Begriff ist eigentlich nur Insidern bekannt. Vielleicht wissen inzwischen viele Vegetarier und Tierschützer, was unter einer veganen Lebensweise zu verstehen ist, aber außerhalb dieses Kreises von Vegetariern und Tierschützern ist das sicher nicht der Fall. Ich mache diese Erfahrung fast jedes Mal, wenn ich in einem Restaurant nicht bloß ein vegetarisches, sondern ausdrücklich ein veganes Essen bestelle. Stets muss ich dann ausführlich meine Bestellung erläutern, um, wenn ich Glück habe, schließlich das zu bekom- men, was ich haben möchte.

Der Zusammenhang zwischen Tierrechte und veganer Lebensweise lässt sich verhält- nismäßig einfach erklären. Schwieriger hingegen ist das Thema Tierrechte selbst, denn, wie Arthur Schopenhauer meinte: Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer.(1)   Das gilt besonders für Tierrechte, die im Gegensatz zu den Menschenrechten keineswegs als Selbstverständlichkeit allgemein anerkannt werden. Deshalb möchte ich  das Thema Tierrechte in den Mittelpunkt meiner Ausführungen stellen und dann schließlich auf die weit- reichenden praktischen Konsequenzen eingehen. Hierzu gehört die Frage, ob damit notwendigerweise eine vegane Lebensweise, also der Verzicht auf alle tierischen Produkte, verbunden ist.

Zunächst aber: Worin liegt der Unterschied zwischen Tierrecht und Tierschutz im kon- ventionellen Sinne? Was unterscheidet die Tierrechtsbewegung von traditionellen Tierschutz- vereinen? Als vor etwa 160 Jahren in Deutschland die ersten Tierschutzvereine gegründet wurden, ging es darum, Tiere aus Gnade und Barmherzigkeit vor Quälereien zu schützen. Christlich orientierte Tierschützer beriefen sich dabei auf das Bibelwort Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs.(2) Der vorhin erwähnte Arthur Schopenhauer hatte schon zu jener Zeit dieses Bibelzitat mit den Worten kommentiert: ,,Erbarmt! " - welch’ ein Ausdruck! Man erbarmt sich eines Sünders, eines Missethäters, nicht aber eines unschuldigen treuen Thieres ... Nicht Erbarmen, sondern Gerechtigkeit ist man dem Thiere schuldig ...(3)

Gerechtigkeit, die Schopenhauer hier für die Tiere fordert, hat etwas mit Recht zu tun, bedeutet Recht für die Tiere, und das ist weit mehr als Barmherzigkeit und Gnade. Auch heute
spricht man noch davon, dass Tiere wie beispielsweise Pferde oder Hunde, die viele Jahre dem Menschen treu gedient hätten, ihr ,,Gnadenbrot" bekämen. Einige Tierheime, die sich dieser Tiere annehmen, nennen sich sogar ,,Gnadenhof". Man darf fragen, was haben die Tiere eigentlich verschuldet, dass der Mensch sie ,,begnadigen“ muss? Gnade kann man - je nach Belieben - gewähren oder entziehen. Gnade und Barmherzigkeit sind edle Motive, aber hier geht es um mehr, nämlich um Rechte, die den Tieren unmittelbar zustehen.

Gnade und Barmherzigkeit, so anerkennenswert und edel sie auch sind, reichen nicht aus, um die Lage der Tiere in unserer Gesellschaft entscheidend zu verbessern. Das Recht muss sich grundlegend ändern. Das wird auch zunehmend von aktiven, vornehmlich jungen Tierschützern so erkannt. Daher gibt es seit etwa 25 Jahren in Deutschland eine Tierrechtsbe- wegung, die sich deutlich von der übrigen Tierschutzszene abhebt. Der Übergang vom Tier- schutz im traditionellen Sinne zum aktiven Eintreten für Tierrechte ist nicht nur ein gradueller Fortschritt, sondern eine neue Qualität im Tierschutz, die neue Maßstäbe setzt. Vor allem aber
liegt der Tierrechtsbewegung ein grundsätzlich neues Denken, ein völlig anderes Verständnis vom Verhältnis zwischen Mensch und Tier zugrunde. Ein solches gewandeltes Denken und auch Fühlen hat praktische Konsequenzen, die tief in den Alltag eingreifen können. Ob dazu notwendigerweise auch eine vegane Lebensweise gehört, ist eine Frage, zu der ich später Stellung nehmen werde.

Der Tierschutz, wie wir ihn kennen, kann viele Gründe haben. Diese Gründe müssen nicht unbedingt ethisch im strengen Sinne sein. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen: Vor etlichen Jahren habe ich im Rahmen einer Anthologie einen Beitrag geschrieben, in dem es um ethische Fragen des Tierschutzes ging. Der Herausgeber dieser Anthologie schrieb mir zurück, dass in meinem Beitrag der weite und für die Umweltpolitik bedeutsame Bereich des Artenschutzes fehlen würde. Ich antwortete ihm daraufhin, dass Artenschutz, genau genommen, nicht Tierschutz im ethischen Sinne sei. Beim Artenschutz wird das Tier nicht um seiner selbst willen geschützt, sondern wegen seiner Seltenheit. Provokativ gesprochen, hat der Artenschutz den ethischen Wert des Briefmarkensammelns, nämlich keinen. Auch in Zoos und Aquarien werden Tiere wegen ihrer Seltenheit besonders geschützt. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich, dass in den Aquarien früher den Schlangen lebende Kaninchen und andere Säugetiere zum Fraß vorgesetzt wurden, was wahrscheinlich auch heute üblich ist. Hierbei kommt es allein darauf an, die Schlangen als seltene und damit wertvolle Tiere zu erhalten, in dem man andere Tiere, die man offenbar als billige Massenware ansieht, als Futtermaterial verwendet. Die ethische Frage, ob die hungrige Schlange oder das zum Fraß vorgelegte Säugetier mehr leidet, hat hier keinerlei Bedeutung.

Wenn ich dem Artenschutz keinen besonderen ethischen Wert beimesse, dann stehe ich in Übereinstimmung mit dem bekannten Tierrechtler und Publizisten Helmut Kaplan. Gerade am Beispiel des Artenschutzes wird für Kaplan wie in einem Brennspiegel der Unter- schied zwischen Tierschutz und Tierrechten deutlich. Im ,Tierschützer Magazin (4) bezieht sich Kaplan auf den Einsatz von Greenpeace für den Artenschutz und schreibt: Tierschutz, und das heißt meist kollektiven Tierschutz, vor allem Artenschutz, betreiben auch jene, die sich an Deck von Greenpeace-Schiffen für den Schutz ,,gefährdeter" Fische engagieren, während sie unter Deck gedankenlos und guten Gewissens ,,ungefährdete" Fische essen. Tierrechte erkennt und praktiziert hingegen, wer auch diese ,,ungefährdeten" Tiere achtet - nicht um des Erhalts ihrer Art willen, nicht um der Schönheit und Vielfalt (Artenvielfalt) der Natur willen, sondern um dieser Wesen selbst willen.

Der Kampf für Tierrechte ist immer Tierschutz, aber im Gegensatz zum traditionellen Tierschutz geht es bei Tierrechten stets und ausschließlich um die Tiere selbst. Das alte Argument der Tierschutzvereine, dass Tierschutz Menschenschutz sei, weil Grausamkeit gegen Tiere zu Grausamkeit gegen Menschen führen würde, hatte bereits vor mehr als 150 Jahren der schon zitierte Philosoph Arthur Schopenhauer verworfen, denn bei einer solchen Argumentation ist bloß der Mensch ein unmittelbarer Gegenstand der moralischen Pflicht, das Thier bloß ein mittelbarer, an sich eine bloße Sache!(5) Für Tierrechtler kann das Motto Tierschutz ist Menschenschutz nicht das entscheidende Argument sein, denn für sie ist das Tier immer das leidende Subjekt, niemals Objekt, niemals bloß Mittel zum Zweck. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem Tierschutz im traditionellen Sinne und dem Kampf für Tierrechte. In diesem Kampf ist die Tierrechtsbewegung noch ganz am Anfang. Denn wie ist in Deutschland die rechtliche Lage der Tiere nach mehr als 150 Jahren traditio- neller Tierschutzarbeit?

Manche konventionellen Tierschutzvereine sehen es als einen gewaltigen Fortschritt an, dass im § l des Tierschutzgesetzes anerkannt wird, dass das Tier ein Mitgeschöpf sei und deshalb der Mensch die Verantwortung habe, das Leben und Wohlbefinden des Tieres zu schützen. Das sind wohlklingende Worte, aber leider stehen sie in geradezu schreiendem Gegensatz zur Wirklichkeit. Hierzu ein kurzer Auszug aus einer richterlichen Begründung:

Natürliche Personen sind nach geltendem Deutschen Recht die Menschen. Dies entspricht dem Verständnis des gemeinen Rechts, das die Begriffe rechtsfähig und Rechts- subjekt oder Person gleichsetzt und als (natürliche) Person nur den Menschen ansieht ...
Tragender Grund dafür, dass die Rechtsordnung die Rechtsfähigkeit und damit insbesondere die Befähigung, Träger von Rechten zu sein, nur dem Menschen zuordnet, liegt in der Erkenntnis, dass nur ihm die besondere Personenwürde eigen ist, kraft seines Geistes, die ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten, die ihn von allen anderen Lebewesen der Natur abhebt ...
Dem entspricht, dass es der Deutschen Rechtsordnung auch sonst fremd ist, die Personen- Eigenart, und damit die Fähigkeit, Rechte und Pflichten zu haben, auf Tiere zu über- tragen. Tiere werden vielmehr - im rechtlichen Gegensatz zu Personen - als Sache behandelt.
(6)

Tiere als Sache - diese Auffassung hat im Abendland eine lange Tradition, die nicht hinterfragt, sondern als eine selbstverständliche Tatsache hingenommen wurde, zumal sie durch die herrschende Religion, das Christentum, über viele Jahrhunderte hinweg legitimiert wurde. So war es jedoch nicht immer: In vielen archaischen Jägerkulturen war das Tier durchaus keine Sache.(7) Tiere standen dort auf der Stufe von Menschen oder sogar noch höher. Jagdtiere, so glaubten die Navaho-Indianer, sind wie menschliche Wesen, nur heiliger. Diese Jägerkulturen sahen im Tier die Verkörperung eines Gottes oder Geistes. Wenn ein Tier auf der Jagd erlegt wurde, so war es oft üblich, das getötete Tier durch magische Entsüh- nungsrituale um Entschuldigung zu bitten. Die Menschen fühlten sich schuldig und glaubten, sich hierfür rechtfertigen zu müssen. Diese Einstellung änderte sich völlig, als die Menschen dazu übergingen, Viehzucht zu betreiben. Durch Domestizieren wurden Tiere, die vorher als Teil der göttlichen Natur angesehen wurden, menschlichen Zwecken unterworfen,  d. h., sie wurden zu einer bloßen Sache degradiert. Dieser Prozess dauert bis heute an und hat in der modernen Gentechnik einen traurigen Höhepunkt erreicht.

Der erste bekannte Philosoph, der sich hiergegen mit Entschiedenheit wandte, war der hier schon mehrmals zitierte Arthur Schopenhauer. In seiner Lebensphilosophie, die der buddhistischen Lehre sehr nahe kommt, ist das Mitleid mit anderen Wesen von zentraler Bedeutung. Für Schopenhauer war das Mitleid allumfassend und nicht nur auf Menschen bezogen, sondern auch auf die Tiere, für welche in anderen Europäischen Moralsystemen so unverantwortlich schlecht gesorgt ist. Die vermeinte Rechtlosigkeit der Thiere, der Wahn, daß unser Handeln gegen sie ohne moralische Bedeutung sei, oder, wie es in der Sprache jener Moral heißt, daß es gegen Thiere keine Pflichten gebe, ist geradezu eine empörende Rohheit und Barbarei ....(8)

So lehnte Schopenhauer voller Empörung die in der jüdisch-christlichen Tradition wurzelnde abendländische Geisteshaltung ab, wonach das Tier nur ein unbeseeltes Etwas sei, eine Sache, die lediglich menschlichem Nutzen zu dienen habe: Die Tiere seien kein Fabrikat zu unserm Gebrauch ... Erst, wenn jene einfache und über allen Zweifel erhobene Wahrheit, daß die Thiere in der Hauptsache und im Wesentlichen ganz das Selbe sind, was wir, in's Volk gedrungen seyn wird, werden die Thiere nicht mehr als rechtlose Wesen dastehn und demnach der bösen Laune und Grausamkeit jedes rohen Buben preisgegeben seyn; - und wird es nicht jedem Medikaster freistehn, jede abenteuerliche Grille seiner Unwissenheit durch die gräßlichste Qual einer Unzahl Thiere auf die Probe zu stellen, wie heut zu Tage geschieht.(9)

Als ich 1988, zum 200. Geburtstag Schopenhauers, im Zusammenhang mit Tierschutz- themen über Schopenhauer in den Kurzinformationen der Tierversuchsgegner Berlin und auch im Vegetarier schrieb, waren manche Tierschützer sehr überrascht, dass es einen Philosophen gab, der sich so deutlich und philosophisch so tiefschürfend für Tiere einsetzte. Deshalb finde ich es gerade auch als Tierrechtler sehr erfreulich, dass man sich in letzter Zeit dieses Philosophen erinnert. So hat Joachim Berger in der Zeitschrift natürlich vegetarisch seine Aufsatzreihe ,,Alle Lebewesen achten“ mit einem fiktiven Philosophenstreit beendet, bei der Schopenhauer das letzte Wort hatte, und bei welchem deutlich zu erkennen war, wie sehr sich die allumfassende Ethik der Schopenhauerschen Philosophie von allen Vorgängern abhob. Mit Recht hat Ingolf Bossenz in seinem Rückblick auf über 150 Jahre Tierschutz- und Tierrechtsbewegung in der Zeitschrift Vegetarisch fit!(l0) Schopenhauer an den Anfang gestellt und darauf verwiesen, dass dieser für die erwachende Tierschutzidee den geistigen Überbau geschaffen hatte. In einem Punkt ist jedoch Ingolf Bossenz zu korrigieren: Schopenhauer hat seine Philosophie und auch seine erstaunliche Tierfreundlichkeit nicht aus den östlichen Weisheitslehren und Religionen übernommen. Vielmehr sind es eigene Erkenntnisse, die er später mit großer Übereinstimmung in den östlichen Lehren, vor allem im Buddhismus und den altindischen Upanishaden , bestätigt fand.

Morgen ist auf dieser Silvestertagung der Tibet-Tag. Schopenhauer hatte in seinem Arbeitszimmer eine tibetische Buddha-Statue, die er verehrte. Im tibetischen Buddhismus gibt es die Gestalt des Dhyani-Buddha-Ratnasambhava, welche die Weisheit der Wesensgleichheit verkörpert. Einer der bedeutendsten buddhistischen Lehrer dieses Jahrhunderts, Lama Anagarika Govinda, schrieb dazu in seinem Buch Grundlagen tibetischer Mystik : Denn nirgends wird die Einheit aller Wesen tiefer empfunden als im Mitgefühl, im Miterleben von Freude und Leid, Glück und Schmerz anderer, woraus der Drang zum Geben, zum Teilhabenlassen und schließlich zum Aufgeben des eigenen Ichs, zur Selbsthingabe an alle Wesen erwächst.(11)

Das trifft ziemlich genau die spirituelle Grundlage, auf der die Schopenhauersche Ethik beruht. Jedoch so sehr auch Schopenhauer um die Jahrhundertwende für Literaten, Künstler, Intellektuelle von Bedeutung war, an der Rechtlosigkeit der Tiere änderte sich dadurch nichts. Spirituelle Erkenntnisse, die der Philosophie Schopenhauers letztlich zugrunde liegen, konnten bestenfalls nur ein kleiner Kreis von ,,Auserwählten" nachvollziehen.

Die Mauer, die der Mensch zwischen sich und dem Tier seit Jahrtausenden errichtet hat, ist gewaltig. Erst Charles Darwin konnte mit seiner bahnbrechenden Lehre, wonach der Mensch vom Tier abstamme, das herrschende anthropozentrische Weltbild ernsthaft erschüt- tern. Die Konsequenzen, die sich daraus für das Selbstverständnis des Menschen und sein Verhältnis zum Tier ergeben, sind erheblich. Deshalb wird bis heute versucht, das alte Welt- bild aufrecht zu erhalten. So berichtete vor einigen Jahren eine Berliner Tageszeitung (12), dass der Papst Frieden mit Darwin geschlossen habe, in dem er die Meinung vertrat, dass zwischen der Evolutionstheorie und der biblischen Schöpfungsgeschichte kein Widerspruch bestehen würde. Unser Körper stamme zwar vom Affen ab, aber Gott habe den Menschen erschaffen, indem er ihm die Seele gab. Aus dieser Interpretation, die mir ziemlich willkürlich erscheint, folgt, dass auch heute noch die katholische Amtskirche den Standpunkt vertritt, dass der Mensch beseelt, das Tier aber ein unbeseeltes Etwas ist. Verständlich, dass bei einer solchen Interpretation Tierrechte ein Fremdwort ist. Wenn man bedenkt, dass bereits vor 2400 Jahren der griechische Arzt und Philosoph Hippokrates erkannte: Mögen unsere Körper noch so verschieden sein - die Seele ist in allen Kreaturen gleich (13) - dann wird deutlich, welche Mauer das Abendland gerade unter dem Einfluss der Religion zwischen Mensch und Tier seit dem Altertum errichtet hat.

Seele oder keine Seele - das ist eine Glaubensfrage, die ich hier nicht entscheiden kann. Ich halte mich vielmehr an eine Erkenntnis des altgriechischen Philosophen Heraklit:
         Aus allem Eins und aus Einem Alles ...
         Denn dieses ist nach seiner Umwandlung jenes,
         Und jenes, wieder verwandelt, dieses.
(14)

Wenn sich alles ineinander wandelt, alles fließend ist, wo ist dann die Grenze zwischen Mensch - Tier - Pflanze - Umwelt? Ich sehe keine solche absolute Grenze. Was jedoch über- deutlich besteht, ist die geistige Mauer, die der Mensch zwischen sich und allem anderen, was lebt, aufgebaut hat. Diese Mauer in den Köpfen steht zwar noch, aber sie bröckelt. Gerade in jüngster Zeit gibt es dafür Belege: So wird in den Medien ziemlich oft davon berichtet, dass Verhaltensforscher - vor allem bei Menschenaffen - immer wieder überrascht seien, wie sehr das Verhalten der von ihnen beobachteten Tiere menschlichem Verhalten ähneln würde.(15) Diese Beobachtungen werden durch die Tatsache unterstrichen, dass zum Beispiel Schimpansen in ihren Erbanlagen zu mehr als 98% mit dem Menschen übereinstimmen. Die Übereinstimmung geht soweit, dass Schimpansen mit uns näher verwandt sind als mit irgend einem anderen Tier. Aber dennoch werden sie in Labors, Zoos, Zirkussen und anderswo erbärmlich wie Sklaven gehalten. So beträgt die in den USA empfohlene Käfighaltung für Laborschimpansen 1,5 mal 1,5 Meter!

Natürlich gibt es trotz aller Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier Unterschiede. Lebewesen lassen sich nach ihrer Zugehörigkeit zu einer biologischen Gattung, einer Spezies, klassifizieren. Ist diese Zuordnung zu einer biologischen Spezies mit einer Bewertung  ver- bunden, so führt das zum Rassismus, Sexismus oder- ein Begriff, den der in Australien und England lebende Philosoph Peter Singer verwendet - Speziesismus.

Zwischen Rassismus, Sexismus und Speziesismus besteht ein enger Zusammenhang. Stets werden Lebewesen aufgrund bestimmter, zumeist äußerer Merkmale als höher- oder minderwertiger eingestuft und dementsprechend behandelt. Für Singer ist die Verwendung von Tieren zu Experimenten das beste Beispiel für Speziesismus.(16) Er stellt die Frage, ob Tierexperimentatoren bereit wären, für ihre Versuche auch Menschen zu verwenden, die an schweren, unheilbaren Hirnschäden leiden. Viele dieser Menschen, die in Krankenhäusern und anderen Institutionen lediglich dahinvegetieren, seien, so meint Singer, weniger schmerz- empfindlich und hätten ein geringeres Bewusstsein, von dem, was mit ihnen geschieht, als wie z. B. Menschenaffen. Es ist deshalb verständlich, wenn Singer zumindest für Menschenaffen Menschenrechte fordert.(17)

Singer steht mit dieser Forderung nicht allein. So hat in Neuseeland bereits eine Gruppe von 38 Naturwissenschaftlern, Juristen und Philosophen einen entsprechenden Gesetzesentwurf in das dortige Parlament eingebracht.(18) Aber auch in Deutschland sind Ansätze für eine artübergreifende Ethik deutlich erkennbar: In einem Leitfaden, der von der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz 1998 auf dem Deutschen Tierärztetag vorgestellt wurde, wird darauf hingewiesen, dass das Tier eine Würde besitze, die es zu achten gelte. Auch das Tier habe ein Recht auf Leben.(19)

Tierärzte sind während ihrer Ausbildung und oft auch später auf Schlachthöfen tätig. Ich frage mich, wenn die Tiere eine Würde und ein Recht auf Leben besitzen, wie das mit Schlachthöfen zu vereinbaren ist. Sind ,,Würde", ,,Recht auf Leben" hier - wie leider so oft - nur schöne Worte, die beruhigen und über die Wirklichkeit hinwegtäuschen? Eine Würde, ein Recht auf Leben, das nur theoretisch, das nur auf dem Papier steht, ändert nichts am realen Leid der Tiere. Es gilt auch hier: Entscheidend ist nicht allein die philosophische Erkenntnis, sondern vielmehr die praktische Konsequenz, die man aus ihr zieht. Eine solche praktische Konsequenz kann jeder ziehen, nämlich als Konsument.

An den Gesetzen, die Schlachttiertransporte, industrielle Massentierhaltung und Tier- versuche legitimieren, lässt sich aufgrund der gegebenen politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse zunächst wenig ändern. Jeder kann aber im Rahmen seiner Möglichkeiten sein Konsumverhalten ändern. Fleischkonsum und Schlachthöfe bedingen sich gegenseitig. Für sein Konsumverhalten ist jeder, der Tiere schützen will, unmittelbar selbst verantwortlich und kann sich dabei nicht auf irgendwelche übergeordneten gesellschaftlichen Macht- verhältnisse berufen. Kein Tierschützer muss auf neue Gesetze warten. Er kann sich nicht herausreden mit irgendwelchen Umständen, die er nicht zu ändern vermag, denn wohl jeder kann sofort mit dem praktischen Tierschutz beginnen - etwa durch eine vegetarische Lebensweise. Viele Tierschützer sind sich dessen bewusst, essen aber weiterhin Fleisch, und wohl deshalb ist in manchen Tierschutzkreisen das Thema ,Vegetarismus immer noch ein “heißes Eisen"

Tierrechte - ist die Konsequenz eine vegane Lebensweise? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie weit Tierrechte ausgedehnt werden. Menschenrechte für Menschenaffen bedeuten zunächst, dass Versuche an Menschenaffen wie Menschenversuche zu werten sind und damit auch vom Gesetz endlich auch als das geahndet werden, was Tier- versuche sind: Verbrechen an Wehrlosen! Da Menschenaffen in unserer Kultur nicht (noch nicht) auf dem Speisezettel stehen, stellt sich in diesem Fall nicht die Frage nach der veganen Lebensweise. Wenn Menschenaffen Rechte erhalten sollen, wie steht es dann mit anderen Tierarten? Auch Schweine beispielsweise sind wohl kaum weniger schmerzempfindend als Menschenaffen und in ihren biologischen Funktionen dem Menschen so ähnlich, dass sie bevorzugt in Tierversuchen eingesetzt werden. Haben diese Tiere kein Recht auf Leben?

Es geht hier nicht um solche Menschenrechte wie Versammlungs- und Meinungs- freiheit, sondern um das elementare Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Es gibt keine Rechtfertigung, diesen Tieren von vornherein das Recht auf Leben zu verweigern - es sei denn, man bejaht das Recht des Stärkeren. In Tierversuchslabors, Schlachthöfen u. dgl. wird vom Recht des Stärkeren, und zwar oft in brutalster Weise täglich Gebrauch gemacht. Das Recht des Stärkeren ist jedoch derart moralisch verwerflich, dass heute kaum jemand wagen wird, sich darauf in der Öffentlichkeit zu berufen. Wer das Recht des Stärkeren als verwerflich ablehnt, muss auch Schlachthäuser ablehnen, und wer diese ablehnt, muss auch Produkte aus diesen Schlachthäusern ablehnen, also auf Fleisch verzichten.

Die selben ethischen Gründe, die für den Verzicht auf Fleisch sprechen, gelten für alle Produkte, die durch die Ausbeutung von Tieren erzeugt werden. Ich kann mir nicht vorstellen,
wie ein Recht der Tiere auf Leben und ihr Recht, von Menschen nicht körperlich geschädigt zu werden, ohne eine vegane Lebensweise zu verwirklichen ist. Wer beispielsweise über die Zusammenhänge bei der Milchproduktion etwas tiefer nachdenkt, versteht den Satz Milch ist auch Blut!

Selbst bessere Tierschutzgesetze ändern nichts daran, dass Fleisch, Milch, Eier, Pelze, Leder und andere tierische Produkte das Ergebnis von Ausbeutung sind. Tiere werden dabei als Objekte der Ausbeutung gebraucht und dementsprechend wie Sachen behandelt. Wer den Tieren ein Recht auf Leben und Wohlergehen zuerkennt, kann sie nicht als Ausbeutungs- objekt benutzen. Konsequente Tierschützer bzw. Tierrechtler verzichten deshalb, soweit wie möglich, auf alle Produkte, die mit der Ausbeutung von Tieren mittelbar oder unmittelbar zusammenhängen, das bedeutet, sie leben vegan.

Für den Verzicht auf Fleisch, also für die ,,normale" ovo-lacto vegetarische Ernährung kann es viele Gründe geben. Oft, vielleicht sogar in den meisten Fällen, sind gesundheitliche Motive maßgebend. Ich kenne jedoch niemanden, der seiner Gesundheit wegen anstatt Leder- lieber Plastikschuhe oder im Winter anstatt Pelz lieber irgendwelche synthetischen Kunst- produkte trägt. Hieraus wird deutlich, dass sich Veganer im Gegensatz zu vielen (Ovo-Lacto-) Vegetariern fast immer um der Tiere willen, also aus ethischen Gründen, für ihre Lebensweise entscheiden. Vegan lebende Vegetarier können daher dem amerikanischen Schriftsteller Isaac Bashevis Singer voll zustimmen, der erklärte: Ich bin nicht Vegetarier geworden, um etwas für meine Gesundheit zu tun, ich tat es für die Gesundheit der Hühner! (20) Wie ich am Anfang hervorhob, geht es bei den Tierrechtlern ebenfalls nur um den Schutz der Tiere um ihrer selbst willen. Tierrechtler und Veganer haben die gleichen ethischen Motive. Veganer sind deshalb als konsequente Tierschützer zumeist auch Tierrechtler.

Die vegane Lebensweise ist der im Alltag überzeugende Beweis, dass das Eintreten für Tierrechte kein bloßes Ideal ist, sondern gelebte Praxis. Es ist daher kein Zufall, dass die vegane Lebensweise etwa zeitgleich mit der Tierrechtsbewegung entstanden ist. Inzwischen gibt es Firmen, die auf vegane Produkte spezialisiert sind. Eine dieser Firmen veranstaltete im September dieses Jahres (1999) in Speyer ein Tierrechts-Festival.(21) Dieses Benefiz-Festival war gut besucht und mit einem Tierrechtsmarkt verbunden. Ein großer Teil des Spenden- erlöses kam Tierrechtsaktionen zugute. Auch das ist ein Beispiel, wie eng Tierrechte und vegane Lebensweise zusammengehören. Auf die zunehmende Nachfrage nach veganen Produkten reagieren immer mehr Reformhäuser und Naturkostläden mit einem entsprechend größeren Angebot an solchen Produkten. In diesem Zusammenhang darf ich auch die Tierschutzpartei erwähnen, die, genau genommen, nach ihrem Programm eine Tierrechts- partei ist. Das Programm dieser Partei enthält ausdrücklich die Förderung der veganen Lebensweise - was sicherlich weltweit in der Parteiengeschichte einmalig ist.(22)

Die erwähnten Beispiele machen deutlich, dass es vorangeht. Aber trotz dieser ermuti- genden Entwicklung muss realistisch festgestellt werden, dass die Tierrechtsbewegung und mit ihr die vegane Lebensweise noch am Anfang stehen. Der Kampf für Tierrechte ist eine artenübergreifende Sklavenbefreiung. Die Sklaverei von Menschen war über Jahrtausende hinweg eine allgemein anerkannte, legitimierte, scheinbar unveränderbare Institution, und doch wurde sie im letzten Jahrhundert innerhalb weniger Jahrzehnte fast weltweit geächtet und abgeschafft. Dieses Beispiel zeigt, dass das, was in der Gegenwart unverrückbar erscheint, nicht so bleiben muss. Jeder Fortschritt in der Weltgeschichte hat klein angefangen und konnte sich oft erst nach langen, beharrlichen Kämpfen gegen das Alte durchsetzen. Aber am Ende hatte er sich durchgesetzt! Deshalb bin ich optimistisch und meine ich, wir haben durchaus Grund zur Zuversicht!
                                                                                                                                       hb

Anmerkungen
1)   Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Julius Frauenstädt, 2. Auflage, Neue Ausgabe,
       Leipzig 1919, Band 4, Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 103.
(2)  Sprüche 12, 10.
(3)  Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band 6, S. 399.
(4)  Nr. 3/99, S. 22.
(5)  Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band 6, S. 404.
(6)  Zeitschrift Schutz für Mensch und Tier und Umwelt, Aug./Sept. 1999, S. 2.
(7)  Vgl. zu diesen und den folgenden Ausführungen: James George Frazer, Der goldene Zweig, rowohlts
       enzyklopädie (Taschenbuch Nr. 2980), Reinbek 1989, S. 650 und 753; sowie Adolf Ellegard Jensen,
       Mythos und Kult bei Naturvölkern, dtv wissenschaft (Taschenbuch Nr. 2680), München 1992,
       S. 190 f., 197, 218 ff.
(8)  Arthur Schopenhauer, a. a. O., Band 4, Preisschrift, S. 238.
(9)  Arthur Schopenhauer, a. a. O., Band 6, S. 402 f. S. dazu auch > Schopenhauer : Tiere.
(10) Nr. 12/99, S. 40.
(11) Lama Anagarika Govinda, Grundlagen tibetischer Mystik, 3. Auflage, Zürich 1973, S. 92.
(12) Berliner Morgenpost vom 25.10.1996. S. 30.
(13) Zit. nach Thorsten Ehrenberg, Wunderwelt der Pinguine, in: TV Hören und Sehen, Nr. 37/1999, S. 9.
(14) Fragmente 10 und 88, zit. nach Wilhelm Capelle (Hrsg.), Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, S. 131 ff.
(15) Zu diesen und den folg. Ausführungen vgl. GEO Nr. 4/1995, S. 176.
(16) Peter Singer, Praktische Ethik, Reclam Nr. 8033, Stuttgart 1984, S. 84.
(17) S. o. Anm. 15.
(18) Der Spiegel Nr. 11/1999, S. 256.
(19) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.06.1998, S. N 3.
(20) Zit. aus Vegetarisch fit! Nr. 10/99, S. 3.
(21) S. Berichte über das Festival im Tierschützer Magazin Nr. 3/99, S. 10.
(22) Im Grundsatzprogramm der Tierschutzpartei (Fassung vom Mai 2002, S. 8 f. und 18) heißt es:
       “Von unserem Selbstverständnis her sehen wir uns als wichtigen Teil der Tierschutzbewegung ... Es geht allem
       voran um das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Diesem Ideal kommt der sog. tierlose Landbau
       am nächsten ... Dieser Art und Weise, Landwirtschaft zu betreiben, entspricht die vegane Ernährungsform, die
       ausschließlich auf pflanzlichen Produkten basiert. Dies ist der konsequenteste Weg, Tierleid zu vermeiden ...
       Wir befürworten die vegetarische / vegane Ernährungsweise aus ethischen Gründen einerseits und aus gesund-
       heitlichen Gründen andererseits ....”
                                                                                                                              
                                                                                    Zur veganen Lebensweise > vegan backen und > vegane Salate

Herbert Becker : Vegane Lebensweise
Vegetarismus

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Ausschnitte aus dem Programm des Vegetarier-Bundes Deutschlands mit
Ankündigung des obigen Vortrages.